Wer sind wir? Was wollen wir?

Der nachfolgende Text fasst einerseits die Rolle, in der wir uns am Fachbereich Jura sehen, und andererseits die Positionen, für die wir stehen, zusammen. Er ist Gruppenkonsens und zugleich Wahlprogramm für die Hochschulwahl 2020.
 
Recht aus einer kritischen Perspektive
Wir möchten Perspektiven bieten, die sowohl über die juristische Ausbildung als auch über die bestehenden Verhältnisse hinausweisen. Wir verstehen unter einem gelungenen rechtswissenschaftlichen Studium daher mehr als nur das Erlernen von Dogmatik und Prüfungsschemata. Recht ist ein gesellschaftliches Phänomen, das nicht als neutrale Instanz über uns schwebt. Stattdessen ist Recht ein grundlegendes, die Gesellschaft strukturierendes Moment, das asymmetrische Herrschaftsverhältnisse erhält und verschärft. 
Wir halten inbesondere die Ausbildung zu Subsumtionsautomaten mit positivistischem Rechtsverständnis für gefährlich. Wir möchten uns dafür einsetzen, dass unser Studium als Mittel dient, den Marginalisierten und Diskriminierten in unserer krisenhaften Gesellschaft zu ihrem Recht zu verhelfen.
 
Das Recht zum Mittelpunkt machen
In einem gefestigten Rechtsstaat ist es selbstverständlich, dass eine angeklagte Person nicht zum bloßen Objekt eines Strafverfahrens gemacht werden darf. Immer öfter enden gesellschaftspolitische Ereignisse in einem Strafprozess. Doch was macht einen Prozess zu einem politischen? Auch damit setzen wir uns auseinander.
 
AKJ im roten Marburg
Marburg gilt als Stadt mit starker linker Szene. Wir sind der Überzeugung, dass dies für junge Menschen ein gewichtiger Grund ist in Marburg zu studieren. Der Fachbereich 01 ist hier sicherlich keine Ausnahme. Wir verstehen uns als Anlaufstelle für linke Menschen, die sich entschieden haben, in Marburg Jura zu studieren. Wir möchten uns in einem Umfeld, das nach wie vor vorwiegend marktliberal und/oder konservativ geprägt ist, gegenseitig unterstützen. Wir möchten uns außerdem über die Erfahrungen, die wir im Studium machen, austauschen, hierbei allerdings nicht stehen bleiben, sondern den Lehrbetrieb auf Grund unserer Erfahrungen kritisieren und umgestalten. 
 
Rechte und Rechtswissenschaften
Die radikale Rechte drängt zunehmend in die gesellschaftliche Mitte. Das Recht und die Rechtswissenschaft sind davon nicht ausgenommen, wie folgende Beispiele zeigen:
 
Beispielsweise Dietrich Murswiek, der Ratgeber der AfD,, war während seines Studiums für zwei Semester Mitglied der NPD-Hochschulorganisation Nationaldemokratischer Hochschulbund in Heidelberg. Heute gilt er zwar als rennomierter Staatsrechtler, vertritt aber in seinen Publikationen einen ethnischen Volksbegriff im Grundgesetz, eine Ansicht, die mit Recht als rassistisch bezeichnet werden kann. So findet er, die BRD sei ein Nationalstaat des deutschen Volkes, der kein Volk aus Menschen beliebiger Kulturen und Sprachen, sein könne. Daraus schlussfolgert er beispielsweise, dass es verfassungsrechtlich zwingend sei, dass die ganz überwiegende Mehrheit der deutschen Staatsangehörigen biodeutsch und homogen sein und bleiben müsse.¹ Hierbei versucht er nicht einmal, Begriffe wie Kultur anstelle eines unmittelbaren Rückgriffs auf die (vermeintliche oder tatsächliche) ethnische Zugehörigkeit zu nutzen – auch dieses Konzept wurde von Theodor Adorno bereits vor über 50 Jahren als rassistisch enttarnt – sondern stellt unmittelbar auf eine angebliche ethnische Gruppe ab, deren Zugehörigkeit er für angeboren und unveränderlich hält. Dass Murswiek den Begriff der Identität ähnlich obsessiv nutzt wie die gleichnamige Bewegung der extremen Rechten, kann da nicht mehr überraschen.
 
Ralph Weber, Jura-Professor in Greifswald und seit einigen Jahren AfD-Landtagsabgeordneter, macht sich nicht einmal mehr die Mühe, seine kruden Thesen in rechtswissenschaftlich komplexe Aufsätze einzubauen, sondern pöbelt auf Pegida-Niveau gegen Flüchtlinge² oder Gender-Wahn“³. Weber fiel daneben durch das Tragen von Kleidung der Neonazi-Marke Thor Steinar auf dem Universitätsgelände auf⁴ und fand es nicht verwerflich, Maik Bunzel, Sänger der Neonazi-Band Hassgesang, als Doktoranden anzunehmen. In Bunzels Liedtexten heißt es u.a. „Adolf Hitler, Sieg Heil tönt es zu dir empor“ und „Heilig sei allen Völkern Befehl, Atomraketen auf Israel“. Die Rektorin der Universität zeigte sich entsetzt, konnte die Verleihung des Doktorgrades an Bunzel aber nicht mehr verhindern.⁵
 

Während am Fachbereich 01 in Marburg derartige Entgleisungen glücklicherweise bisher nicht vorgekommen sind, so fällt doch auf, dass insbesondere Burschenschaften, darunter auch solche, die zur extremen Rechten zählen, auch hier im Fachbereichsleben präsent sind, Mitglieder werben und teilweise Einfluss ausüben. Von Seiten einiger Professoren bestehen außerdem keine Bedenken mit Burschenschaften (zum Beispiel als Referenten) zu kooperieren.

Wir fordern das sofortige Ende solcher Kooperationen und sehen es außerdem als unsere Aufgabe bei Studierenden ein Bewusstsein dafür zu schaffen was an Burschschaften problematisch ist.⁶

Wir halten es daher für unverzichtbar, ein Bewusstsein für Mechanismen zu schaffen, über die rechte, reaktionäre  Netzwerke Einfluss auf Recht und Rechtswissenschaft ausüben, weil nur dann den autoritären Manövern begegnet werden kann und so ein freiheitliches Recht gewährleisten werden kann.
 
Geschlechtergerechte Sprache
Geschlechtergerechte Sprache muss zur Normalität am Fachbereich werden!
Es ist absurd, dass die Gleichstellungskommission als offizielles Organ der Philipps-Universität einerseits die Verwendung von Gender-Stern, Unterstrich oder Binnen-I ausdrücklich empfiehlt⁷, während es regelmäßig vorkommt, dass Korrektor*innen am Fachbereich 01 die Verwendung hiervon als Fehler anstreichen und Studierende daher Nachteile befürchten müssen, wenn sie Hausarbeiten und Klausuren in geschlechtergerechter Sprache abgeben. Wir fordern, dass diese Praxis beendet wird. In Bereichen, in denen das Dekanat weisungsbefugt ist, also in erster Linie für organisatorische Dokumente, Formulare etc., sollte die Verwendung geschlechtergerechter Sprache vorgeschrieben, in übrigen Fällen (Hausarbeiten, Material von Professor*innen etc.) empfohlen werden.
 
Palandt umbenennen
Wir schließen uns der Forderung der Initiative „Palandt umbenennen“ an: der Standardkommentar zum BGB muss endlich umbenannt werden! Seit 1938 ist das juristische Standardwerk nach Otto Palandt benannt, der als Präsident des Reichsjustizprüfungsamtes, Mitglied der NSDAP und der Akademie für Deutsches Recht die sogenannte „Arisierung“ des Rechtswesens vorantrieb. 
Aus dem gleichen Grund auf den Prüfstand gehören weitere „Klassiker“ wie der Schönfelder oder der Maunz/Dürig. Während Heinrich Schönfelders nationalsozialistischen Umtrieben glücklicherweise 1944 von italienischen Partisanen ein Ende gesetzt wurde, erdreistete sich Theodor Maunz, der zu deutschen Unzeiten noch als Rechtsgrundlage für polizeiliches Handeln das Gesetz durch den „Willen des Führers“ ersetzen wollte und zahlreiche ähnlich fürchterliche Äußerungen hervorbrachte, gar, sich nach 1945 öffentlich „geläutert“ zu geben, während er jahrzehntelang anonym in rechtsradikalen Zeitungen publizierte.⁸
 
kritische Orientierungswoche
Perspektivisch möchten wir außerdem daran arbeiten, eine kritische Orientierungswoche zu organisieren. Eine Veränderung in Lehre und der Rechtswissenschaft als Ganzes kann nur langfristig funktionieren. Wir möchten deshalb Raum bieten sich zu bilden, zu (re)politisieren und gleichzeitig insbesondere jüngeren Semestern die Möglichkeit geben Anschluss und Zugang zu politischer Arbeit zu erhalten. 
 
 
Selbstverständlich finden die Probleme der Rechtswissenschaft nicht im luftleeren Raum statt und alleiniges Theoretisieren ist zu wenig. Wir werden deshalb in Zukunft auch auf außeruniversitäre Kontexte und Kämpfe verweisen.
 
 
[1] Murswiek, Dietrich: Staatsvolk, Demokratie und Einwanderung im Nationalstaat des Grundgesetzes, Jahrbuch des Öffentlichen Rechts 2018, 396, 416.
[2] „Kein Geld für Eure ‚Flüchtlinge‘ – unser Geld für unsere Kinder“ (– Weber), vgl. Ulrich Steier: Wahlslogan der AfD ist ein Schlag ins Gesicht. In: Ostsee-Zeitung vom 30. Juli 2016.
[5] Potsdamer Neueste Nachrichten: Braune Karriere, 20. April 2016.
[6] Zum Weiterlesen und zu Fragen der grundsätzlichen Kritik an studentischen Verbindungen im Allgemeinen und Burschenschaften im Besonderen, die in diesem Text aus Platzgründen keine Aufnahme gefunden hat, empfehlen wir den beim AStA (leider zurzeit nicht online) erhältlichen Reader Verbindungen kappen – eine kritische Betrachtung Marburger Verbindungen sowie (auch mit Marburg-Bezug) den Reader Autoritär, Elitär, Reaktionär des AStA der Goethe-Uni Frankfurt.
[8] Maunz publizierte mindestens ab den 1960ern bis zu seinem Tod 1994 regelmäßig anonym in der rechtsextremen National-Zeitung und stand in der gleichen Zeit dem Neonazi Gerhard Frey mit Rat und Tat zur Seite, vgl. Stolleis, in: KJ 1993, 393-396.

Arbeitskreis kritischer Jurist*innen Marburg